Montag, 30. Mai 2011

Gegen das Gestern: eine Erwiderung an Herrn Pflichtverteidiger Iken

In einem launigen Kommentar im Hamburger Abendblatt unter dem Titel "Gegen den Strom - Eine Pflichtverteidigung der Atomkraft" schwingt sich deren stellvertretende Chefredakteur Matthias Iken zum Pflichtverteidiger der Atomkraft auf.  In Anlehnung an Herrn Ikens prozessuale Wortwahl der Pflichtverteidigung sendete ich der Redaktion des Abendblatts eine Anfrage, ob denn wie bei einem demokratisch legitimierten Gerichtsprozeß üblich auch der Staatsanwalt das Rede- bzw. Schreiberecht im Abendblatt eingeräumt bekäme.

Eine Antwort darauf blieb aus. Daher halte ich mein Plädoyer „Gegen das Gestern“ nicht im Gerichtssaal des Axel Springer Verlags, sondern auf offener Straße. Hier ist das Publikum zwar härter als im kuscheligen Axel Springer Haus, aber der Staatsanwalt ist eine steife Briese durchaus gewöhnt.

Gleich in seinem Eingangssatz macht Herr Verteidiger Iken keinen Hehl daraus, für wen sein Herz schlägt (das ist auch sein gutes Recht bzw. geradezu seine Pflicht, schließlich ist er durch häufige regelmäßige Werbeanzeigen in seinem Blatt ein gut bezahlter Anwalt der Angeklagten). Herrn Verteidiger Ikens Herz schlägt also für die armen verleumdeten Angeklagten, in diesem Fall die AKW-Betreiber Deutschlands. In seinen Worten sind das „Konzerne, die in
der Vergangenheit kaum eine Gelegenheit ausgelassen haben, mit
Strompreiserhöhungen Unmut hervorzurufen.“ Schön gesagt, Herr Iken. Ein kleiner Tadel der eigenen Mandanten gleich am Anfang des Plädoyers läßt sowohl das Plädoyer realistischer und die eigenen Mandanten menschlicher wirken … und verdeckt umso besser die anschließend nicht angesprochenen großen Vergehen der eigenen Klientel.
Die Gegenseite = wir = die Ankläger, das sind laut Herrn Iken „Umweltverbände, Politiker und Ökofirmen“. Was er von diesen hält, macht Herr Iken deutlich: „Zugleich versprechen uns Umweltverbände, Politiker und Ökofirmen eine heile Welt, in der sich die Windräder drehen und Milch, Honig und Ökostrom fließen.“ Ein herrliches rhetorisches Mittel: durch Überhöhung macht man den Gegner lächerlich. Gut gebrüllt, Herr Iken. In dem Ton geht es dann weiter: „In Talkshows, Kommentaren und Parlamenten stellt die Auf-Deubel-komm-raus-aus-der-Atomkraft-Bewegung längst die überwältigende Mehrheit.“ Hier also die überwältigende Mehrheit der AKW-Gegner, die auf allen Kanälen auf das arme kleine gallische Dorf der AKW-Betreiber schießt. Hach, wie Herr Iken hier den Beschützerinstinkt in dem geneigten Leser zum Klingen zu bringen versucht.

Bis zu dieser Stelle ist die Verteidigung drauf und dran, das Herz der Leserschaft zu erobern. Aber jetzt macht die Verteidigung einen entscheidenden Fehler: sie versucht es nicht mehr mit Rhetorik, sie versucht es mit Argumenten.

Herrn Ikens Argument Nr. 1 pro Atomkraft:
Die Alternativen sind keine Alternativen
In Herrn Ikens Worten klingt das so: „Wind weht nicht immer, und die Sonne scheint gerade in unseren Gefilden leider zu selten.“
Uiuiuiuiu. Liebe AKW-Gegner, packt ein. Dank Herrn Iken glauben wir eurem Märchen ab jetzt nicht mehr, daß Wind immer weht und die Sonne scheint!
Was sagt ihr? Das habt ihr nie behauptet? Ach, das es die Nacht gibt, habt ihr auch nie geleugnet? Und es ist auch gar nicht nötig, daß die Sonne immer scheint und der Wind immer weht? Weil z.B. sich ausgleichende Netze, schnell regelbare zuschaltbare BHKWs und Gaskraftwerke zusammen mit Energiespeichern in solchen (übrigens seltenen) Zeiten die Energieversorgung übernehmen können?

Ah, Herr Verteidiger Iken, haben Sie da vielleicht das Beweisstück A wie die Stellungnahme des Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung aus 2009 nicht zur Kenntnis genommen?
 So sagte der SRU bereits 2009:
"Der Sachverständigenrat für Umweltfragen in Berlin plädiert für einen Umbau der Stromversorgung in Deutschland. Statt auf einen Energiemix soll ausschließlich auf erneuerbare Energie gesetzt werden. Dies bedeutet eine Absage an die konventionelle Energiegewinnung wie beispielsweise Kohle und Kernkraft."

Die Verteidigung in Person Herr Ikens schwadroniert jedoch weiter zu diesem Thema folgendes:
„Bis Fukushima kamen 22 Prozent aus der Atomkraft. Diese lassen sich dauerhaft nur ersetzen, wenn neue Anlagen entstehen. Experten halten zwölf Großkraftwerke mit insgesamt 10 000 bis 14 000 Megawatt für nötig. Und das werden Gas- und Kohlekraftwerke sein. Die ehrgeizigen Klimaschutzziele sind damit Geschichte; historisch dürften auch die Kosten werden.“

Dann nochmal zum Mitschreiben, Herr Verteidiger: der Ausstieg aus der Atomkraft ist OHNE neue Kohlekraftwerke möglich! Neue Gaskraftwerke: ja, vielleicht.
Sie verwechseln hier Experten mit Kohle-Lobbyisten. Zwar nur ein kleiner Patzer … aber leider für eine glaubwürdige Verteidigung erschütternd.


Herrn Ikens Argument Nr. 2 pro Atomkraft:
die Kosten

So ganz sicher ist sich der Verteidiger Herr Iken an dieser Stelle nicht. Die hier von der Verteidigung genannten Kosten differenzieren erheblich, sowohl numerisch (Herr Iken nennt eine Bandbreite von 3 bis 800 Milliarden) als auch zeitlich (mal spricht Herr Iken von kumulierten Summen bis 2050, dann wieder von jährlichen Summen). Seriöse Argumentation geht anders, ist an dieser Stelle aber auch schwer zu zeigen, weil: keiner weiß, was der Ausstieg kostet, auch Herr Iken nicht. Aber was Herr Iken weiß: es wird teuer, sehr, sehr teuer! Und zwar weil: „Seit dem Merkel-Moratorium, der Abschaltung von sieben Altmeilern, sind es an der Leipziger Strombörse aber schon zwei Cent - in nur sechs Wochen.“

Nun ja, lieber Herr Verteidiger: ein Blick bei den Kollegen hätte Ihnen offenbart:

„Unruhe ist bei den Akteuren am Strommarkt nicht zu spüren, wie die Kursverläufe zeigen: Berücksichtigt man, dass der Preis an der EEX in den letzten Jahren zwischen 5 und 9 Cent schwankte, ist der ausstiegsbedingte Aufschlag aktuell moderat.“ (Zitat TAZ 12.04.2011)

Und die Staatsanwaltschaft zitiert an dieser Stelle die renommierte Wirtschaftswoche: „In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Preise für elektrischen Strom verdreifacht.“

Desweiteren klagt die Verteidigung, die Gesellschaft selbst zwänge doch die Angeklagten zu ihren Taten:
„Der um nicht einmal einen Cent teurere Ökostrom ist der breiten Mehrheit viel zu teuer. Die Deutschen wollen zwar bei Atomkraft den Stecker ziehen, nur Ökostrom kommt bei ihnen nicht in die Steckdose - derzeit liegt der Anteil von Ökostrom bei
unter zehn Prozent.“ 

Also sind die Angeklagten laut Verteidigung quasi durch Volkswillen gezwungen, günstigen Atomstrom zu liefern. Darf die Staatsanwaltschaft an dieser Stelle die Verteidigung darauf aufmerksam machen, daß das Hamburger Abendblatt durch häufige Werbeanzeigen des Vattenfall-Konzerns für pseudo-grüne Stromtarife oder auch dieses hier zur Diskussion stehende Plädoyer der Verteidigung gerade in der Vergangenheit dafür gesorgt hat, daß der gemeine Hamburger Bürger eben nicht objektiv über die wahren gesellschaftlichen Kosten von Atom- und Kohlestrom aufgeklärt wird und daher bisher tatsächlich nicht in Scharen zu den regenerativen Anbietern gewechselt ist?!
Es sei aber angemerkt, Herr Iken, daß laut Beweisstück B: Manager Magazin Artikel „Zehntausende wenden sich von Vattenfall ab“ diese greenwashing-Werbeanzeigen in Ihrem Blatt anscheinend nicht mehr so verfangen. Vielleicht stehen Sie ja deshalb jetzt auch persönlich hier im Ring.


Herrn Ikens Argument Nr. 3 pro Atomkraft:
der Blackout

Hier versagt die Verteidigung jetzt völlig. In jedem Gerichtssaal, Herr Verteidiger Iken, wäre Ihnen gleich im 2. Satz dieses Abschnitts das Wort entzogen worden. Aber wir sind hier ja auf der Straße. Sie schreiben : „Hinter vorgehaltener Hand werden Termine herumgereicht, wann die Abschaltung der Reaktoren Konsequenzen zeitigt, ist es Pfingstmontag, an einem heißen Julitag oder doch erst im Winter?“
Wen interessiert bei Gericht, was hinter vorgehaltener Hand getuschelt wird? Und dann auch noch von den Akteuren auf der Anklagebank?
Die Verteidigung schreibt weiter: „ Zuletzt warnten auch die Stromnetzbetreiber eindringlich vor großflächigen Versorgungsausfällen". Und wer sind denn die bestimmenden Stromnetzbetreiber in diesem Land? Sind das, Herr Verteidiger, nicht zufällig die gleichen Betreiber wie die der Atomkraftwerke? Ja, das sind sie nämlich, lieber Herr Verteidiger Iken. Und ganz selbstlos warnen uns die AKW-Betreiber vor dem Blackout - und die Erde ist eine Scheibe.

Wir alle wollen hier kein Interessen geleitetes Geschwurbel hören, Herr Verteidiger Iken, wir wollen Fakten hören! Fakten, Herr Verteidiger, die Sie uns aber nicht liefern können. Die könnten uns nur laut dem Artikel „Gefährliches Informationsmonopol“ in der ZEIT vom 26.5.2011 nur folgende Personen liefern:
„Die Einzigen, die eine qualifizierte Aussage zu der Frage geben können, sind eine Handvoll Hochspannungstechniker, die bei den Übertragungsnetzbetreibern für den Systembetrieb zuständig sind.“

Dies ist zu beachten, Herr Verteidiger Iken, und damit ist der Rest dieses Abschnitts Ihres Plädoyers leider wieder mal nur apokalyptische Rhetorik im Sinne Ihrer Mandanten.


Herrn Ikens Argument Nr. 4 pro Atomkraft:
Die soziale Frage

Lieber Herr Verteidiger Iken, in diesem Abschnitt ihres Plädoyers merkte man sehr deutlich, daß Sie besser eine Prozesspause hätten beantragen sollen. Bei Ihren Ausführungen zur sozialen Frage haben sie sich dermaßen vergaloppiert, daß Sie selber ja nicht mehr die staunenden Ausrufe des Publikums überhören konnten.
Sie schreiben u.a. folgendes:
„Nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) wurde die Umlage für die Förderung regenerativer Energie für das laufende Jahr bei 3,53 Cent pro Kilowattstunde festgelegt. Damit zahlt der durchschnittliche Haushalt im Jahr 116 Euro mehr als nötig.“
Darf ich Ihnen nochmals Ihre eigenen einleitenden Worte in Erinnerung rufen, Herr Verteidiger Iken? Sie stellten Ihre Mandanten selber mit den Worten vor: „Konzerne, die in der Vergangenheit kaum eine Gelegenheit ausgelassen haben, mit Strompreiserhöhungen Unmut hervorzurufen.“

Die Staatsanwaltschaft stellt den Aussagen der Verteidigung daher folgende Aussage des UBA gegenüber:

Eine Analyse des Umweltbundesamtes zeigt: Rund 85 Prozent der Strompreissteigerungen zwischen 2000 und 2010 sind auf andere Faktoren als die EEG-Umlage zurückzuführen. Die aktuellen Aufschläge bei den Strompreisen lassen sich nicht mit der EEG-Umlage begründen, denn der Erhöhung der Umlage stehen erhebliche Kostensenkungen bei der Strombeschaffung gegenüber. Zu verdanken ist dies auch dem Ausbau der erneuerbaren Energien, der zu einem Rückgang der Preise an der Strombörse führte. „Das EEG ist nicht nur wichtig und notwendig für den Klimaschutz, sondern auch ökonomisch sinnvoll. Wer bei der Förderung des Ausbaus der erneuerbaren Energien nur auf einzelwirtschaftliche Kosten schaut, blendet wesentliche Aspekte aus: Gesamtwirtschaftlich gesehen, verringern die erneuerbaren Energien Umwelt- und Gesundheitsschäden in Milliardenhöhe. Wegen der steigenden Preise fossiler Energien wird die Stromerzeugung mit erneuerbaren Energien mittelfristig am Markt sogar günstiger sein“, sagte UBA-Präsident Jochen Flasbarth.

Und dann redet die Verteidigung auch noch von den Milliarden an Subventionen, die bisher im Rahmen der EEG-Umlage gezahlt worden seien: „Acht Milliarden Euro pro Jahr [...]“. Und das reicht nach Ausage Herr Ikens bisher nur für eine regenerative Energieversorgung aus „sieben Prozent aus Wind, zu fünf Prozent aus Biomasse und zu zwei Prozent aus Sonne“, macht in Summe 14%.
Verehrtes Publikum, Herr Richter, lieber Herr Verteidiger Iken: ich nenne ihnen hier an dieser Stelle nur zwei Zahlen:
1. Höhe der offiziell bekanntgegebenen Höhe an Subventionen für die Atomenergie in Deutschland von 1950 bis 2010: mindestens 204 bis 304 Milliarden Euro an staatlichen Fördermitteln. (Quelle: Greenpeace)
2. prozentualer Anteil der Energieversorgung aus Atomkraft in Deutschland 2010: 22%

Vorschlag, lieber Herr Verteidiger Iken: lassen Sie uns die 204-304 Milliarden für die regenerativen Energie nehmen und mal schauen, wie weit wir kommen …


Herrn Ikens Argument Nr. 5 pro Atomkraft:
Die Importlüge

Die Verteidigung schreibt an dieser Stelle:
„[…]unsere Nachbarn exportieren seit Wochen eifrig Strom nach Deutschland: rund 3000 Megawatt, also den Strom zweier Kernkraftwerke; Tschechien, das Land mit ehrgeizigen Atomplänen, hilft mit bis zu 2000 MW aus. Mit dem Tag des Moratoriums verwandelte sich Deutschland vom Nettoexporteur von Energie zum -importeur.“ 
Das mag sein, Herr Verteidiger Iken, das mag sein. Aber Ihre Mandanten machen das freiwillig und nicht, weil die Gesellschaft sie dazu zwingt! Darf ich Ihnen kurz Beweisstück C auf den Tisch legen:
Artikel im Handelsblatt: „Deutschland braucht keine Stromimporte“, 06.04.2011.

Zitat: „Deutschland ist nicht auf Stromimporte aus dem europäischen Ausland angewiesen, um seinen Verbrauch zu decken. Atomstrom aus Frankreich ist derzeit nur einfach billiger.“

Zusammenfassung: Ihre Mandanten importieren Strom, weil sie es aus profitorientierten Gründen wollen. Und nicht weil sie es müssen.


Herrn Ikens Argument Nr. 6 pro Atomkraft:
Das Klima

Die Verteidigung schreibt: "Der Preis für einen schnellen Atomausstieg ist eine Umschichtung auf Kohle und Gas", sagt Claudia Kemfert, Energieexpertin des Wirtschaftsinstituts DIW. Ach ja, das gute alte von den großen 4 Energieversorgern gefütterte DIW …
Wir geben zu: die Staatsanwaltschaft ist an dieser Stelle etwas gelangweilt. Nicht nur, Herr Verteidiger Iken, weil Sie hier mit dem gleichen falschen Argument wie in Abschnitt 1 Ihres Plädoyers kommen von wegen neue Kohlekraftwerke seien nötig für den Ausstieg.
Wir haben bereits an der dortigen Stelle ihre diesbezügliche Aussage seziert und widerlegt. Nein, wir sind auch deswegen gelangweilt, weil: die neuen Kohlekraftwerke wie z.B. das KoKW Moorburg sind noch nicht am Netz, die Mehrzahl der deutschen AKWs vom Netz .. und rotzdem ist das Licht noch an. Wie kann die Verteidigung also überhaupt allen Ernstes behaupten, neue Kohlekraftwerke seien notwendig, um AKWs zu ersetzen? Wieso glaubt die Verteidigung, wir alle seien zu blöde, um zu sehen und zu verstehen?

Und kommen Sie mir nicht mit den Polynesiern, Herr Verteidiger Iken! Der Staatsanwaltschaft möge die Verteidigung nur ein einziges Beispiel einer Diskussion, eines Vortrags, einer sonstigen Veranstaltung nennen, in denen z.B. hier in Hamburg der Vattenfall Konzern als Erbauer des neuen KoKW Moorburg sich bisher für die Polynesier eingesetzt hat! Sagen wir es offen, Herr Verteidiger Iken: bis zum heutigen Tag war es ihrer ehrenwerten Mandantschaft E.ON, EnBW, RWE und Vattenfall sch... egal, ob Polynesien untergeht! Deshalb kommen Sie mir auch nicht heute, wo Ihre Mandanten untergehen, hier mit der Mitleidsmasche!


Herrn Ikens Argument Nr. 7 pro Atomkraft:
Die Deindustrialisierung

Kann es sein, Herr Verteidiger Iken, daß Sie an dieser Stelle wieder statt auf Fakten auf das Getuschel Ihrer eigenen Mandantschaft hereingefallen sind?
Sie schreiben:
“ Die Versorgung mit Energie gilt als Rückgrat moderner Industriegesellschaften. Die Bundesregierung wagt jedoch einen historischen Radikalumbau. Es klingt tollkühn - in der shakespeareschen Wortbedeutung: Ist das schon Tollheit, hat es doch Methode.“

Ach, der arme Shakespeare … kann sich nicht wehren, wenn seine historischen Verse im Kontext eines historischen Radikalumbaus nun als intellektueller Überbau für Ängste aus der Mottenkiste herhalten müssen. Hallo, Herr Verteidiger Iken! Mal zuhause gewesen in den letzten Wochen?! Sie holen hier nämlich das Argument aus der Mottenkiste: AKWs abgeschaltet = Deutschland abgeschaltet
Lieber Herr Verteidiger Iken, falls Sie es wegen der gewissenhaften Vorbereitung Ihres Plädoyers in den vergangenen 2 Monaten nicht mitbekommen haben sollten: wir haben in Deutschland bereits fast alle AKWs abgeschaltet, und das Licht leuchtet noch, die Industrie arbeitet noch. Das mag der einfachen Tatsache geschuldet sein, daß die Atomkraft auch vor Fukushima nur noch für 22% der Energieversorgung Deutschlands sorgte – und ein großer Teil davon war unnötige Reserve oder Exportüberschuß.

Nett auch das lokale Hamburger Beispiel: „Es war der Konzern Norsk Hydro, der der Aluhütte 2006 den Saft abdrehen wollte, weil Strom zu teuer geworden war – schließlich verkaufte der Konzern das Werk an den Mittelständler Trimet.“
In Erinnerung, Herr Verteidiger Iken: 2006 lebten wir noch in einem Staat mit mehr als einem Dutzend laufender AKWs … und schon damals erhöhten die Atom-Oligopolisten wie in Hamburg Vattenfall/HEW so ungeniert die Preise, daß die Industrie Schaden nahm.
Der Kontext dieses Beispiels als Verteidigung ihrer Mandanten, lieber Herr Verteidiger, wird sich daher weder mir noch der geneigten Öffentlichkeit erschließen.

Und zu Ihrer eigenen Glaubwürdigkeit, Herr Verteidiger Iken, sei Ihnen nur angeraten. Zitieren Sie besser nicht Herrn Sinn vom Ifo-Institut, der gerne massig Unsinn von sich gibt. Hauptsache, der Mann kommt in die Zeitung. Der Mann sagt u.a. auch: „"Es gibt kein einziges Land auf der ganzen Erde, das noch aus der Atomkraft aussteigt - Deutschland ist der Geisterfahrer auf der Autobahn." Damit kann man Herrn Sinn auch als Geisterfahrer der Wirtschaftsforscher bezeichnen. Hat doch z.B. die Schweizer Regierung angekündigt, auch auch aus der Atomkraft aussteigen zu wollen.

Herrn Ikens Argument Nr. 8 pro Atomkraft:
Der deutsche Sonderweg

Der Herr Verteidiger Iken hält der Anklage vor: ganz oder gar nicht. Also die ganze EU solle aus der Atomkraft aussteigen. Und wenn das nicht klappt, soll bitte kein einziges einzelnes Land der EU aus der Atomkraft aussteigen können. Wo kämen wir denn sonst hin?!

Frage an die Verteidigung: Was soll dieses Argument?
Wissen Sie, Herr Verteidiger Iken, warum z.B. Deutschland über einen Ausstieg schon bis 2012 diskutiert und Frankreich nicht? Weil wir es technisch können. Und wir hier auf der Straße wissen, daß wir es können. Das ist natürlich nicht gut für Ihre Mandanten, aber Ihr Verweis auf die Nachbarn, die eben noch nicht mit der Energiewende angefangen haben, ändert daran auch nichts.

Herrn Ikens Argument Nr. 9 pro Atomkraft:
Die Wut-Bürger

Ach, die Wut-Bürger … der Alptraum der deutschen Großprojektplaner, Politiker und Konzernboss-Elite … und anscheinend auch der Alptraum der Chefredaktion des Hamburger Abendblatts. Der Verteidiger Iken führt aus:
„Die Planer von neuen Kraftwerken - egal ob Gas oder Kohle, Wasser oder Wind - benötigen in Deutschland extrem gute Nerven. Denn bevor die Bagger rollen, sind die Wutbürger schon da. In der Wustermark bekämpfen Initiativen den Bau eines Gaskraftwerks, in Moorburg oder Datteln Kohlekraftwerke. An der Küste machen sie mobil gegen Offshore-Windparks, im Schwarzwald gegen Pumpspeicher, in Hamburg gegen Fernwärmetrassen, in Nordfriesland gegen CO2-Speicher.“

Da Sie davon sprechen, Herr Verteidiger Iken, nehme ich von Ihren argumentativen Jonglierbällen nur einen einzigen auf: die Wut-Bürger waren es, die in Hamburg im Jahr 2010 den ungesetzlichen Bau der Fernwärmetrasse gestoppt haben, wie das OVG entschied. Sie, Herr Verteidiger Iken, werfen also allen ernstes Bürgern vor, daß sie Recht und Gesetz einfordern, wo sich Ihre Mandanten über Recht und Gesetz hinwegsetzen?! D.h. Sie als Vertreter von Recht und Ordnung im Land stellen sich also hier hin und fordern im Gericht und auf der Straße ganz offen eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, bei der sich Ihre Mandanten über Recht und Gesetz stellen dürfen?
Herr Verteidiger Iken, ich denke, wir beide sollten über diesen Passus Ihres Plädoyers ganz fix den Mantel des Schweigens breiten, bevor das Publikum und der Richter merkt, wessen Geistes Kind Sie sind ...


Herrn Ikens Argument Nr. 10 pro Atomkraft:
Ein Modell für Europa
Man merkt dem Plädoyer des Verteidigers Iken an, daß er unbedingt die Zahl von 10 Argumenten für seine Mandanten erreichen wollte … in der Hoffnung, Wiederholungen würden dem Publikum nicht auffallen. Deshalb sagt der Verteidiger Iken: „Auch die Italiener waren einmal ein Modell, wie man es nicht macht: Nach Tschernobyl verzichteten die Italiener auf Kernkraft - und sind seitdem ein Großimporteur französischen Atomstroms zu Höchstpreisen.“ Wir sagen an dieser Stelle der Verteidigung:
1. Anders als an der Kanzlei der Verteidigung gingen die letzten 25 Jahre nicht spurlos an der technologischen Entwicklung in Deutschland vorüber. Es gab Frauen und Männer, die schon vor, aber besonders nach Tschernobyl den Austieg aus der Atomkraft und damit die Energiewende vorbereitet haben. Und deshalb ist Deutschland 2011 nicht mit Italien 1986 vergleichbar.
2. Mal nebenbei: Wenn Italien den doch ach so billig hergestellten Atomstrom aus Frankreich „zu Höchstpreisen“ importieren muß … kann es sein, daß da ein Land von Ihren Mandanten bzw. deren Bandenmitgliedern gnadenlos abgezockt wird?


Herrn Ikens Argument Nr. 11 pro Atomkraft:
Mut zur Führung

Was drei Plädoyers vorher noch falsch ist (nämlich der Mut, sich gegen eine tatsächliche oder vermeintliche Mehrheitsmeinung zu stellen), ist jetzt auf einmal gefordert. Denn der Verteidiger Iken fordert jetzt an dieser Stelle von Kanzlerin Merkel: „Etiam si omnes, ego non. Auch wenn alle mitmachen, ich nicht.“ Interessant … bisher dachte der Staatsanwalt wie wahrscheinlich auch der überwiegende Teil des Volkes, daß die Kanzlerin das Oberhaupt der Volksvertreter darstelle, ergo gerade zusammen mit diesen den Volkswillen zu repräsentieren habe! Nun ruft Herr Verteidiger Iken hier ganz offen eine neue Staatsform aus: die Diktatur der politischen und wirtschaftlichen „Elite“. Ehrlichkeit ist eine Zier, Herr Verteidiger Iken, aber sie ist kein Persilschein für ungesetzliches und unverfrorenes Handeln Ihrer Mandanten in Hinblick auf die Demokratie in unserem Land. Und wie ihre Mandanten bereits letztes Jahr zusammen mit der Kanzlerin bei der Laufzeitverlängerung die Demokratie in Deutschland ausgehebelt haben, ist dem Staatsanwalt und der Bevölkerung hier auf der Straße durchaus bewußt. Wir danken aber an dieser Stelle dem Verteidiger Iken nochmals ausdrücklich für die offenen Worte, wie sich seine Mandantschaft die gesetzgeberischen Spielregeln in diesem Land wünscht.


Nun ist auch die Staatsanwaltschaft zu ihrem Schluß gekommen. Und zusammenfassend schüttele ich den Kopf und stehe den Ausführungen des Verteidigers Iken zwiegespalten gegenüber. Einerseits traurig, weil sich immerhin der stellvertretende Chefredakteur einer renommierten überregionalen Zeitung wie des Hamburger Abendblatts sich nicht zu schade ist, seine unsachliche persönliche Meinung in einem Kommentar in seiner Zeitung hunderttausendfach zu verbreiten. Andererseits auch lächelnd, zeigt es doch, wie sehr die Mandantschaft des Herrn Iken,die AKW-Lobbyisten und AKW-Betreiber in Deutschland, mit dem Rücken zur Wand stehen, wenn sie jetzt schon zum Strohhalm greifen und Redakteuren wie Herrn Iken eilig verfaßte Pamphlete mit der dringenden Bitte um Veröffentlichung in die Hand drücken. Denn ich möchte und kann nicht glauben, daß dieser dilettantisch verfaßte Artikel aus dem Hause Axel Springer tatsächlich aus der Feder eines stellvertretenden Chefredakteurs geflossen ist. Sollte das doch so gewesen sein … dann möchte ich auch an dieser Stelle mit einem Zitat enden: „Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Fr.... halten.“ „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“.

3 Kommentare:

  1. Ergänzung: Wegen des deutschen Atomausstiegs überdenkt Polen seine AKW-Pläne: http://www.focus.de/politik/weitere-meldungen/energiewende-polen-ueberdenkt-atomeinstieg_aid_632629.html

    Soviel zum Argument des Verteidigers Iken zum "deutschen Alleingangs" und zum Unsinn des "Experten" Herrn Sinn ...

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  2. Ein großartiges Plädoyer. Besonders gelungen ist auch das Schlusszitat zu Matthias Iken.
    ;-)

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  3. 12.06.2011: Und nun ist Italien nach Deutschland und der Schweiz das dritte europäische Land nach Fukushima, welches die energetische Zukunft ohne Atom plant. Schönen Gruß an Herrn Iken ...

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